Indianerliteratur

Indianerliteratur
Indianerliteratur,
 
Bezeichnung, die im Allgemeinen sowohl für die von Nichtindianern verfasste Literatur über die Ureinwohner Nordamerikas als auch für die Literatur der Indianer selbst verwendet wird.
 
Seit den Berichten von Kolumbus hat die das Leben und die Gebräuche der Indianer darstellende Literatur von Nichtindianern mit ihren Klischeevorstellungen vom »edlen« (noble savage) und »barbarischen« (ignoble savage) Wilden die Einstellung der Europäer zu den Indianern maßgeblich geprägt. Die Vorstellung vom »edlen Wilden«, dem ein Leben der Freiheit und Einfachheit führenden »unschuldigen« Naturmenschen, war seit dem 16. Jahrhundert in Europa populär (Exotismus) und diente v. a. im Frankreich des 18. Jahrhunderts den Philosophen der Aufklärung (J.-J. Rousseau, D. Diderot) als Argument ihrer Zivilisationskritik.
 
In Nordamerika dominierte lange das den weißen Eroberern als Rechtfertigung dienende Bild des blutrünstigen, gottlosen Roten. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Indianer als edler Wilder verherrlicht, am eindrucksvollsten in J. F. Coopers »Lederstrumpf«-Romanen (1823-41). In der Nachfolge Coopers erschienen im 19. Jahrhundert in Deutschland populäre, humanitär für die Indianer eintretende Romane (C. Sealsfield, F. Gerstäcker, B. Möllhausen, F. A. Strubberg, Friedrich Pajeken, * 1855, ✝ 1920, und K. May). In Nordamerika wurde seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts v. a. in der »popular culture« wieder das Klischee des barbarischen Wilden verbreitet. Daneben suchte eine ethnologisch detailgetreue Indianerliteratur ein verständnisvolleres, realistischeres Bild zu zeichnen. In den 1960er-Jahren schließlich wurde der Indianer zur Identifikationsfigur der nach neuen Lebensformen und Einklang mit der Natur strebenden Gegenkultur und diente als Mittel ihrer Kritik an der Industriegesellschaft, so z. B. in den Romanen »One flew over the cuckoo's nest« (1962; deutsch »Einer flog über das Kuckucksnest«) von K. Kesey und »Little big man« (1964; deutsch »Der letzte Held«) von T. Berger.
 
In Deutschland bemühten sich seit F. von Gagerns »Das Grenzerbuch« (1927) F. Steuben, Günter Sachse (* 1916; »... und wo ist des Indianers Land ?«, Neuausgabe 1987), Käthe Recheis (* 1928; »Red Boy«, 1967), Isolde Heyne (* 1931), Liselotte Welskopf-Henrich (*1901, ✝ 1979) um fundiertere Indianerliteratur.
 
Die Literatur der indianischen Bevölkerung Nordamerikas umfasst die jahrtausendealten mündlichen Überlieferungen der verschiedenen Indianerkulturen, in denen das Wissen des Stammes gespeichert ist und die tradierten Glaubens- und Wertvorstellungen weitergegeben werden. - Im Wortsinn des schriftlich Niedergelegten bezeichnet Indianerliteratur die von Indianern in englischer Sprache verfasste Literatur, die sich erst nach dem Kulturkontakt mit den Weißen entwickelte. Die ersten bedeutenderen Werke dieser Indianerliteratur entstanden in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und vermehrt nach Einweisung der Urbevölkerung in Reservationen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Es waren dies v. a. Autobiographien, die persönliche Erinnerung und Stammeskultur verbanden und zum Teil mithilfe weißer Koautoren aufgezeichnet wurden. Daneben erschienen erste Werke der Lyrik und der erzählenden Prosa. In den 1930er-Jahren setzte im Gefolge einer indianerfreundlicheren Politik eine Renaissance indianischer Kultur ein, in der Literatur mit Romanen, Autobiographien und stammeskundlichen Schriften. Erst in den 60er-Jahren aber, parallel zu den Forderungen der Indianer nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, gelang der Indianerliteratur der Durchbruch und die Anerkennung durch die für Alternativen sensibilisierte Majorität mit dem Roman »House made of dawn« (1968; deutsch »Haus aus Dämmerung«, auch als »Haus der Morgendämmerung«) des Kiowa N. S. Momaday, während das neu erwachte indianische Selbstbewusstsein seinen Ausdruck in dem erfolgreichen »indianischen Manifest« »Custer died for your sins« (1969) des Sioux Vine Deloria junior (* 1933) fand. Seitdem erlebte die moderne Indianerliteratur eine Blüte v. a. in den erzählenden Gattungen und in der Lyrik; zu ihren bekanntesten Vertretern gehören neben Momaday die Tiwa L. M. Silko, der Blackfoot J. Welch, der Keres S. Ortiz, der Ojibwa G. R. Vizenor und die Chippewa L. Erdrich. Die indianischen Schriftsteller bringen zum einen den Hintergrund der eigenen Kultur und deren mythische, naturgebundene Weltsicht in ihr Werk ein und versuchen, die mündliche Überlieferung in die modernen Texte einzugliedern und dadurch die Erzähltradition fortzusetzen, zum anderen sind sie durch die euroamerikanische Kultur beeinflusst, was sich in der Verarbeitung der modernen Erfahrung der Identitätskrise und in der Auseinandersetzung mit dem in der westlichen Literatur geschaffenen Indianerbild niederschlägt. Zentrale Themen sind neben der Darstellung indianischen Lebens in der Vergangenheit und der indianisch-weißen Kontaktgeschichte aus indianischer Sicht die Gegenwartsprobleme der Indianer, der Konflikt zwischen der traditionellen Weltsicht und dem Leben in der Industrie- und Konsumgesellschaft, die soziale und kulturelle Desintegration, die Identitätssuche, die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, aber auch deren Scheitern, die Wichtigkeit der Stammesgemeinschaft und -kultur sowie der Natur.
 
 
L. A. Fiedler: Die Rückkehr des verschwundenen Amerikaners (a. d. Amerikan., 1970);
 
American Indian authors, hg. v. N. S. Momaday (Boston, Mass., 1976);
 
Literature of the American Indian, hg. v. T. E. Sanders u. a. (Neuausg. Beverly Hills, Calif., 1976);
 C. R. Larson: American Indian fiction (Albuquerque, N. Mex., 1978);
 
Critical essays on native American literature, hg. v. A. Wiget (Boston, Mass., 1985);
 A. L. B. Ruoff: American Indian literatures (Neudr. New York 1993).

Universal-Lexikon. 2012.

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